Ligeti, György: Drei Stücke für zwei Klaviere – Musik als gefrorene Zeit (1976)

  • Der folgende Text stammt von Christian Köhn und erscheint mit freundlicher Erlaubnis des Verfassers hier als Gastbeitrag anlässlich des Ligeti-Jahres 2023. Er wurde für einen Vortrag mit Gesprächskonzert an der Universität Mainz geschrieben.


    Die drei Stücke für zwei Klaviere von G. Ligeti entstanden 1976 im Auftrag des Westdeutschen Rundfunks Köln und wurden dort am 15. Mai 1976 von Alfons und Aloys Kontarsky uraufgeführt. Sie gehören zu den wichtigsten jüngeren Werken dieser Besetzung und haben auch innerhalb des Ligetischen Gesamtwerkes einen besonderen Stellenwert, weil in ihnen viele musikalische Problemstellungen und stilistische Merkmale von Werken der vorangegangenen 15 Jahre noch einmal zusammengefasst und weiterentwickelt wurden.


    Der erste Satz „Monument” beginnt im 1. Klavier mit ff-Doppeloktaven auf dem Ton „a”. Bei genauem Hören wird man bemerken, dass der zeitliche Abstand zwischen diesen Oktaven nicht gleich bleibt, sondern sich zunächst bis zur 4. Oktav jeweils minimal (nämlich um je 1/16) verlängert, sich dann bis zur 8. Oktav ebenso verkürzt, um sich danach wieder zu vergrößern. Es findet also eine wellenförmige Verlangsamung und Beschleunigung der Repetitionen statt, ein Prinzip, dass sich durch den ganzen Satz zieht. Kurz bevor diese Welle einmal durchlaufen wurde, setzt das 2. Klavier ebenfalls ff auf dem Ton „ges” mit einer eigenen Welle ein. Die Abstände sind hier kürzer als im 1. Klavier, außerdem ist das Metrum ein anderes (6/8 gegenüber 4/4 im 1.Klavier). Die Überlagerung verschiedener Metren und verschiedener Zeitabläufe ergibt bereits hier recht komplizierte Strukturen. Diese beiden Wellen bleiben bis etwa zur Mitte des Satzes völlig unverändert und werden immer wieder aufs neue durchlaufen. Zu dieser ff-Ebene im Vordergrund kommt ab Takt 19 eine in einer räumlichen Vorstellung quasi dahinterliegende f-Ebene mit den Tönen „h” im ersten und „c” im zweiten Klavier, die Notenwerte sind dabei kürzer als bei den ersten Wellen. Das zweite Klavier setzt wiederum ein, wenn das erste einmal die Welle von Verlangsamung und Beschleunigung durchlaufen hat. Es laufen nun also gleichzeitig zwei gleich strukturierte Überlagerungsprozesse ab, einer ff im Vordergrund relativ langsam, einer f relativ schnell im Hintergrund. Indessen dauert es nicht lange, bis in Takt 27 ein dritter Prozess der gleichen Art, ebenfalls ff, mit den Tönen „f” im ersten und „des” im zweiten Klavier (ab Takt 33) einsetzt. Bis Takt 40 ist dabei jede Tonhöhe fest mit einer immer gleichbleibenden Dynamik gekoppelt. Ligeti selbst hat die beabsichtigte räumliche Vorstellung im Programmheft der Uraufführung beschrieben:


    „Die Pianisten spielen in dichter Sukzession und abrupt ff, p, f, mp, pp, usw., in immer wechselnder Permutation, doch für den Hörer erscheinen alle ff als eine Schicht, alle f als eine zweite (gleichsam dahinterliegende), bis zur „hintersten” pp-Schicht. Bei genauer Realisation der dynamischen Differenzierung erscheint die Musik, als wäre sie dreidimensional, wie ein Hologramm, das im imaginären Raum steht. Diese Raumillusion verleiht der Musik einen statuarischen, immobilen Charakter (= ‘Monument’).”


    In Takt 40 beginnen die bisher gleichbleibenden Tonhöhen halbtönig zu „wandern”, zunächst wieder im ersten Klavier das „f” zum „e”, dann im zweiten Klavier das „c” zum „ces” usw. Gleichzeitig rücken die Töne auch zeitlich näher zusammen, d.h. die Amplitude der zu Beginn beschriebenen Wellen wird allmählich kleiner. Wenn in Takt 43 im ersten Klavier das „h” zum „b” wandert, setzt erstmals ein weiterer Prozess ein: Die Dynamik geht von f zum mf, oder – um im Bild der räumlichen Vorstellung zu bleiben – der Ton wandert im imaginären Raum nach hinten. Diese neue Art der Bewegung nimmt nun zum Ende des Satzes immer mehr zu. Die Töne verlassen also nach und nach die feste Position sowohl der Tonhöhe, wie der Dynamik und wandern dreidimensional durch den imaginären Raum. Die Tönhöhen erreichen dabei nach und nach die Extremregister, die Dynamik geht immer mehr zurück bis zu völligen Stille.


    Im zweiten Satz mit dem Titel „Selbstportrait mit Reich und Riley (und Chopin ist auch dabei)” fällt zunächst einmal die Technik der Tastenblockierung auf. Die Idee zu dieser Technik stammt von Karl-Erik Velin und Henning Siedentopf: Eine Hand drückt stumm mehrere Tasten, die andere spielt darüber in schnellem Tempo sowohl auf den klingenden, wie auch auf den blockierten Tasten, wodurch sich mit großer Präzision komplizierte rhythmische Gestalten realisieren lassen. Ligeti hat diese Technik weiterentwickelt zur „mobilen Tastenblockierung”, d.h., die blockierten Tasten bleiben nicht immer diesselben, sondern verändern sich. Auch kommt es vor, dass eine Taste klingend angeschlagen wird, um dann weitere Anschläge zu blockieren. Beide Pianisten zunächst „so schnell und so gleichmäßig wie möglich” kurze Figuren, die bis zu 24 mal wiederholt werden. Die Länge der einzelnen Figuren ist dabei für das Ergebnis der Überlagerung zwischen beiden Klavieren wichtig: Spielen beide Pianisten Figuren gleicher Länge,; so erscheinen dem Hörer plötzlich inmitten des allgemeinen Flirrens stabile Strukturen. In anderen Fällen spielt einer der Pianisten eine immer gleichbleibende Figur, während die Figuren des anderen allmählich (und zwar um blockierte Noten) verkürzt werden, was vom Hörer als Beschleunigung der klingenden Noten wahrgenommen wird. Es erscheinen metrisch-rhythmische Gestalten, die in den einzelnen Stimmen gar nicht real gespielt werden, sondern erst als Ergebnis aus dem Zusammenwirken dieser Stimmen in unserer Wahrnehmung entstehen, ein Vorgang, den Ligeti als „Illusionsrhythmik“ bezeichnete. Die Idee des Kanons beherrscht den ganzen zweiten Teil des Satzes. Beide Pianisten spielen die gleichen Figuren mit „mobiler Tastenblockierung”, im zweiten Klavier jeweils etwas später beginnend und als Echo (also p). Die ironische Behandlung des Kanon-Verfahrens zeigt sich dann vor allem am Schluss dieses Abschnitts, wenn in der Unterstimme in beiden Klavieren eine Reminiszenz an „Bruder Jakob” erscheint. Im nächsten Abschnitt „Impetuoso” spielen beide Pianisten zunächst abwechselnd sehr schnelle und laute, mit blockierten Tönen durchsetzte Figuren, was durch den Kontrast zwischen angestrengter Heftigkeit und etwas holperigem klingendem Ergebnis wiederum leicht ironisch wirkt. Aus den klingenden Noten schälen sich sehr bald die Töne „g”, „cis”, „dis” heraus, die dann von beiden Pianisten zunächst synchron wiederholt, dann nacheinander beschleunigt werden. Diese Figur leitet dann über zum letzten Abschnitt des Satzes, in dem rasende Oktavläufe („so schnell wie möglich, oder noch schneller”) abwechselnd in beiden Klavieren zu hören sind. Diese Läufe stellen eine Reminiszenz an den letzten Satz der b-Moll-Sonate von Chopin dar.


    Der dritte Satz „In zart fließender Bewegung” scheint auf den ersten Blick der konventionellste der drei zu sein. Er erscheint in seiner auf die Spitze getriebenen Virtuosität wie von einer Aura des 19. Jahrhunderts umgeben. Schon beim ersten Hören kann man eine gewisse Verwandtschaft zum ersten Satz feststellen, vor allem durch die Tonhöhenentwicklung – beide Sätze erweitern den Tonraum von der Mittellage bis zu den beiden Extremregistern – und durch die allmähliche Verkürzung der Notenwerte. Ligeti hat den dritten Satz als „verflüssigte Variante” des ersten bezeichnet. Die Beziehungen zum zweiten Satz sind – obwohl weniger offensichtlich – gleichwohl vorhanden. Wurden in „Selbstportrait” aus einer gleichmäßig gespielten Folge von Tönen durch „Tastenblockierung” einzelne Töne sozusagen subtrahiert, so spielen hier beide Pianisten wiederum gleichmäßige Tonketten, aus denen durch Akzentuierung Melodiefragmente hervorgehoben werden. Dabei sind erstes und zweites Klavier zunächst kanonisch (im Einklang in der Vergrößerung) geführt. Aufgrund dieser Vergrößerung muss das zweite Klavier im zweiten Kanon einen Ton auslassen, um sozusagen den Anschluss nicht zu verlieren. Am Ende von Takt 3 taucht erstmals ein Spiegelkanon auf, dem im Laufe des Satzes noch weitere folgen werden. Das zweite Klavier imitiert und variiert zwei Takte später. Die Imitationen im zweiten Klavier werden nun im Laufe des Satzes immer freier. In den Takten 7 und 8 ist die rhythmische Imitation durch die Umkehrungsstimme nicht mehr streng, was zur Folge hat, dass nicht mehr klar zwischen führender und imitierender Stimme zu unterscheiden ist. Das ganze führt zu einer Atmosphäre angedeuteter komplizierter Polyphonie, die im einzelnen für den Hörer nicht fassbar ist.


    Das kanonische Verfahren bildet die wichtigste Klammer um alle drei Sätze, denn auch die rhythmischen Reihen im ersten Satz sind ja alle gleich strukuriert und lassen sich deshalb als Kanon auf einem Ton verstehen. Höhepunkt des Werkes ist der abschließende achtstimmige Spiegelkanon (ab Takt 49). Von den acht Stimmen sind vier in Original- und vier in Umkehrungsgestalt. Ligeti hat nun den Stimmverlauf durch verwirrenden Stimmtausch zunehmend verschleiert, so dass man in Analogie zur Illusionsrhythmik von einer Illusionsmelodik sprechen könnte: Dem Hörer erscheinen Stimmen, die in dieser Form von den Pianisten gar nicht gespielt werden. Im Werkkommentar zu Ligetis Klavierkonzert, entstanden zwischen 1985 und 1988 schreibt der Komponist: „Die musikalischen Illusionen, die mir so wichtig sind, sind dabei kein Selbstzweck, sondern Grundlage meiner ästhetischen Haltung. Ich bevorzuge musikalische Formen, die weniger prozesshaft, eher objektartig beschaffen sind: Musik als gefrorene Zeit, als Gegenstand im imaginären, durch die Musik in unserer Vorstellung evozierten Raum, als ein Gebilde, das sich zwar real in der verfließenden Zeit entfaltet, doch imaginär in der Gleichzeitigkeit in allen seinen Momenten gegenwärtig ist. Das Bannen der Zeit, das Aufheben ihres Vergehens, ihr Einschließen in den jetzigen Augenblick ist mein hauptsächliches kompositorisches Vorhaben.”

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